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Groß-Gerauer informieren sich im historischen Bahnhofsviertel

Am Dienstag endete die History-Tour 2015 unter der Schirmherrschaft des Historikers und Germanisten Prof. Dr. Ernst Erich Metzner in Groß-Gerau. Rund 20 Interessierte folgten der Einladung des SPD-Bundestagsabgeordneten Gerold Reichenbach und des SPD-Ortsvereins Groß-Gerau.

v.l.n.r.: Landrat a.D. Willy Blodt, Museumsleiter Jürgen Volkmann, Gerold Reichenbach (MdB)

Jürgen Volkmann, Leiter des Stadtmuseums Groß-Gerau, leitete den eineinhalbstündigen Rundgang durch das historische industrielle Bahnhofsviertel der Kreisstadt. Beginnend am Bahnhof führte er die Gruppe über die August-Bebel-Straße zur ehemaligen Synagoge in der Frankfurter Straße.

Zu Beginn zeigte Volkmann Bilder des alten Bahnhofes, der bei seiner Gründung noch außerhalb der Stadt lag. Der repräsentative Bahnhof enthielt sogar eigens für den Großherzog in Darmstadt ein „Fürstenzimmer“ für den Fall, dass dieser mit dem Zug nach Groß-Gerau kam, um in der Fasanerie oder im Mönchbruch zur Jagd zu gehen. Im Zweiten Weltkrieg wurde der Bahnhof schwer zerstört und in den fünfziger Jahren dann durch einen Neubau etwas weiter südlich, dem heutigen Bahnhofsgebäude, ersetzt.

Besonderes Augenmerk legte Volkmann anschließend auf die Gebäude der Prälat-Diehl-Schule, das ehemalige Gelände des 1983 gegründeten Preß- und Stanzwerks Jakob Faulstroh in der Adolf-Göbel-Straße. Der Betrieb war in seinen Hochphasen das bedeutendste Unternehmen Groß-Geraus. Jeder siebte Groß-Gerauer ging in den sechziger Jahren dort seiner Arbeit nach. Allein zur betriebseigenen Lehrlingswerkstatt gehörten 120 Auszubildende.

Neben der ehemaligen Käserei Hofmann in der Adolf-Göbel-Straße, die seinerzeit eine von bis zu 26 Käsereien in der Stadt war, sowie der Schneiderei und Gardinenfabrik des jüdischen Ehepaars Alfred und Paula Mattes in der August-Bebel-Straße, die Anfang der dreißiger Jahre insolvent ging, berichtete Volkmann von diversen Handwerksbetrieben, die im Zuge der Industriealisierung im 19. Jahrhundert und der durch den Zuzug in die Region hohen Nachfrage nach Häusern zu Wohlstand kamen.

Ebenfalls ansässig in der Adolf-Göbel-Straße, die nach einem Groß-Gerauer Emigranten benannt wurde, der später die notlei-dende Groß-Gerauer Bevölkerung mit Hilfssendungen unterstützte, war die Bäckerei Friedrich Ludwig Schneider. Johannes Schneider, einer der beiden Söhne, war der Vater von Volkmanns Vorgänger als Museumsleiter, Ernst Schneider. Johannes Schneider eröffnete in seinem Elternhaus 1925 eine Kantine für Mitarbeiter der Firma Faulstroh, die später zur bis 1948 betriebenen Gaststätte „Zur alten Post“ wurde. Die “alte Post” diente in der Nazizeit als heimlicher Treffpunkt für Sozialdemokraten und Kommunisten. Mitte der fünfziger Jahre ging das Gebäude an die Firma Faulstroh über.

Letzte Station war die ehemalige Synagoge in der Frankfurter Straße. Sie existierte nur 46 Jahre. Im September 1934 wurden religiöse Gegenstände zerstört und am 10. November 1938 wurde die Synagoge durch Brandstiftung in der Pogromnacht vernichtet. In dem Gebäude befanden sich unter anderem Torarollen aus dem 18. und 19. Jahrhundert.

Zum Ende des Rundgangs las Volkmann aus Ernst Glaesers Buch “Jahrgang 1902” die in Groß-Gerau spielende Szene der Verhaftung eines Arbeiters durch die „Obrigkeit“ vor. Der Heizer und Sozialdemokrat Kremmelbein, der in der Zuckerfabrik arbeitet und in einer der von dieser erbauten „Mietskaserne“ wohnt, wird verhaftet weil er aus Slovakien und Italien kommende Streikbrecher daran gehindert hatte, das Fabrikgelände zu betreten. Glaeser beschreibt in seinem Roman im Stil der „Neuen Sachlichkeit“ eindringlich die sozialen Verhältnisse in Groß-Gerau, wo er als Kind aufwuchs, da sein Vater Richter am dortigen Amtsgericht war.