Asylpolitik zwischen Solidarität und Nationalismen - Interview mit Gerold Reichenbach, MdB

Philipp Schnatbaum gemeinsam mit Gerold Reichenbach, MdB

Am 25.02.2016 hat der Bundestag mit großer Mehrheit das umstrittene Asylpaket II beschlossen, welches Verschärfungen im Asylrecht vorsieht. Kernthemen sind vor allem schnellere Asylverfahren, Einschränkungen beim Familiennachzug und ein erweitertes Angebot an Integrationskursen. Wie haben Sie gestimmt?

Also ich habe zugestimmt, wenn auch schweren Herzens. Das Paket enthält ein paar Elemente, die ich für richtig halte. Dazu gehört auch die Einschränkung von Missbrauchsmöglichkeiten. Die Regelung beim Familiennachzug halte ich allerdings für problematisch, auch wenn davon nur eine kleine Gruppe betroffen ist.

Ich stelle fest, dass Bilder, die das Schicksal von Flüchtlingen abbilden, nicht mehr den emotionalen Effekt bewirken, wie dies noch im September vergangenen Jahres der Fall war. Glauben Sie, dass unsere Willkommenskultur derzeit an ihre Grenzen stößt?

Bilder und Medien spielen in dem Zusammenhang eine große Rolle. Ich glaube einer der Gründe, der in Teilen der Bevölkerung - auch dort wo es ganz wenige oder gar keine Flüchtlinge gibt - Angst erzeugt hat, waren die täglichen Bilder von den großen Strömen, oft auch gerade nur junge Männer, die an der bayerischen Grenze ankamen. Das waren andere Bilder, als die Bilder, die wir jetzt wieder aus Idomeni sehen, und schon haben wir auch wieder eine andere Diskussion. Das ist, glaube ich, grundsätzlich ein Problem – wir ertragen ja sehr viel Leid in der Welt, weil wir es einfach nicht sehen, ob das Hungerkatastrophen sind oder Ähnliches. Erst dann, wenn Fernsehkameras das mit Bildern übertragen, dann wird vielen Menschen bewusst was da passiert. Ich glaube, dass sich Politik nicht von solchen Emotionen leiten lassen kann, auch wenn sie natürlich die Motivationslage von Wählern beeinflusst. Wir haben eine Humanitäre Verantwortung, vor dem Völkerrecht, dem Grundgesetz und der Geschichte.

Ich möchte den Bogen nun ein bisschen weiter spannen – auf europäische Ebene. Wir erleben jetzt schon seit einigen Jahren einen Rechtsruck in vielen EU-Mitgliedsstaaten, wieder zurück zum rein nationalen Denken. Mit Blick auf die letzten Landtagswahlen in Baden-Württemberg, Rheinland-Pfalz und Sachsen-Anhalt - kann sich Deutschland diesem Phänomen noch verwehren?

Ein Teil dessen, was wir jetzt in Deutschland erleben, ist ein Stück Normalisierung. Auf der Linken haben wir ja längst das erlebt, was wir aus vielen europäischen Ländern schon kennen, nämlich eine Spaltung der Linken in eher extrem linke Parteien und die Sozialdemokratie. Das kennen wir aus Italien. Das gibt es auch in Frankreich. Das kennen wir aus Schweden. Was wir jetzt erleben ist die Aufspaltung auf der Rechten, die wir ja auch schon seit Jahren in einigen europäischen Ländern beobachten. Von daher ist es auch ein Stückchen europäische Normalität. Gleichwohl kann man sich damit nicht abfinden.

Das Zweite ist, dass wir gerade eine völlige Entsolidarisierung in Europa erleben. Das liegt daran, dass bei vielen Menschen in Europa die wirtschaftlichen Vorteile, die ein Land ohne Grenzen, ein einheitlicher Markt, auch ein einheitliches Regelwerk bringen, nicht ankommen. In allen europäischen Ländern, ist ein Teil der Mittelschicht abstiegsbedroht und die Einkommen der unteren Einkommensgruppen entwickeln sich sehr viel schwächer als die der oberen Einkommensgruppen. Damit wächst die Entfremdung gegenüber Europa. Das machen sich Nationalisten zunutze.

Plakativ formuliert: Wenn es um Finanz- bzw. Schuldenpolitik geht, dann versucht jeder europäische Staat das effektiv Beste für sich herauszuholen. Man denke vor allem an EU‑Fördermittel. Geht es aber nicht um Geld, sondern um humanitäre Problembewältigung, so findet die Zusammenarbeit ihr Ende. Kann hier etwas getan werden?

Man muss sich die Ursachen betrachten, wenn man überlegt, was man dagegen tun kann. Nach meiner Einschätzung liegt eine der Ursachen darin, dass die europäische Union sich in der Vergangenheit viel zu stark als einheitlicher Markt und Wirtschaftsraum und nicht als ein einheitlicher Werteraum sowie als Raum für eine gemeinsame Fiskal- und Sozialpolitik begriffen hat. Auch der Beitritt vieler neuer EU-Kandidaten war weniger ein Beitritt in ein bestimmtes Solidar- und Wertesystem, als vielmehr der Beitritt in einen aus ihrer Sicht attraktiven Wirtschaftsraum, von dem sie sich mehr Wohlstand versprochen haben. Diese Versprechungen sind zum einen nicht so schnell zu erfüllen wie gewünscht, und zweitens lösen sie natürlich viele der internen Probleme, die diese Länder haben, nämlich mangelnde demokratische Strukturen, mangelndes demokratisches Verständnis, Transparenz und den wirklichen Willen Korruption zu bekämpfen, nicht.

Inzwischen ist die Europäische Union ein Stückchen zu einem Club der Egoisten verkommen. Das heißt man braucht Europa nur dann, wenn man davon profitiert und immer dann, wenn man Solidarität üben soll, stellt man seine eigenen – auch parteipolitischen - Interessen in den Vordergrund und stellt die europäische Solidarität hinten an. Dass das nicht funktionieren kann, liegt auf der Hand, denn immer dann wenn ich selbst Hilfe brauche, bin ich ja auch auf die Solidarität der anderen angewiesen.

Ich befürchte, dass uns am Ende nichts anderes übrig bleibt, als innerhalb dieses schnell gewachsenen Europas so etwas wie ein Kerneuropa herauszubilden. Ein Europa von Staaten, die nach wie vor auch bereit sind, das europäische Solidarprinzip zu leben. Dabei muss man selbstkritisch sagen, die Bundesrepublik hat sich in der Vergangenheit auch nicht sehr viel anders verhalten. Wenn wir etwa darüber nachdenken, wie wir mit den Flüchtlingsströmen, die in der Vergangenheit nur Spanien, Italien oder Griechenland erreicht haben, umgegangen sind, oder in der europäischen Finanzkrise, etwa mit Griechenland.

Die EU-Kommission schätzt, dass bis zu 3 Millionen Asylbewerber von Anfang 2016 bis Ende 2017 nach Europa kommen könnten. Die EU hat ungefähr 508 Millionen Einwohner. Wie bewerten sie dieses Verhältnis? Was sagen diese Zahlen aus?

Naja, die Zahl alleine macht ja schon deutlich, dass dies keine unleistbare Aufgabe ist, wenn wir bedenken, dass das kleine Land Jordanien mit rund neuneinhalb Millionen Einwohnern alleine mehr als eine halbe Million Flüchtlinge aus Syrien aufgenommen hat, wird umso deutlicher, wie schäbig sich manche europäischen Länder zurzeit in der Union verhalten. Viele europäische Länder übersehen momentan, dass der Egoismus, den sie in der Europäischen Union vorantreiben auch auf sie selbst zurückschlagen kann. Nationale Alleingänge werden weder die Flüchtlingsprobleme lösen, noch werden sie für die europäischen Mitgliedsstaaten selbst dauerhaft von Nutzen sein, auch nicht wirtschaftlich und sozial.

Das Interview führte Philipp Schnatbaum.

Fact sheet zum Asylpaket II.