Israel und das humanitäre Dilemma
Auch angesichts der Flut der Bilder aus dem Gaza Streifen und der West-Bank, die beschädigte und zerstörte Gebäude, angegriffene Krankenhäuser und das schreckliche Leid der Zivilbevölkerung zeigen, darf es nicht vorschnell zur Verurteilung Israels kommen.
Ich bin kein Freund oder gar Anhänger der Regierungen Netanyahus, geschweige seiner ultraorthodoxen und radikalen Koalitionspartner.
Ja, die aggressive Siedlungspolitik der israelischen Rechten im Westjordanland und das Abwürgen des Friedensprozesses nach den Osloer Verträgen durch die Regierungen Netanyahu und seiner ultraorthodoxen und radikalen Koalitionspartner spielte der Hamas und ihrem Terrorsystem in die Hände.
So hat es schon arg befremdet, 2011 im Empfangszimmer eines israelischen Ministers prominent an der Wand hängend eine Karte von Eretz-Israel, „Groß-Israel“ zu sehen, auf der die palästinensischen Autonomiegebiete bereits von der Landkarte getilgt waren.
Die unheilige Symbiose
Die Radikalen auf beiden Seiten stehen in einer unheiligen Symbiose. Garantierten doch die Radikalität und Aggressivität der jeweils anderen Seite den eigenen Machtanspruch als „alleinige Schutzmacht“ des eigenen „Volkes“.
Israels Rechte konnten sich fest darauf verlassen, dass kurz vor Wahlen die Hamas oder andere palästinensische Terrorgruppen ihnen in die Hände spielen und Angriffe auf Israel durchführen. Denn eine gemäßigte, um Ausgleich und Frieden mit den Palästinensern bemühte israelische Regierung wäre eine Bedrohung der Machtbasis der Terroristen.
Die dann erfolgenden Gegenschläge Israels und die aggressive Siedlungspolitik der in der Folge gestärkten rechten Kräfte in Israel dienen wiederum der Hamas und dem radikalen Dschihad zur Aufwiegelung der Palästinenser und der muslimischen Bevölkerung im arabischen Raum und der Rekrutierung von Unterstützern ihres Terrornetzwerkes.
Ja, der Stopp des Friedensprozesses und das Ende der „Zwei-Staaten“ Politik durch die Regierung Netanyahu sowie die militante, von der Regierung geduldete und von Teilen der Regierung gar offen unterstütze Siedlungspolitik, die die ansässige arabische Bevölkerung gewaltsam vertreibt, hat der Radikalisierung auf der palästinensischen Seite und bei der Bevölkerung in vielen muslimischen Staaten in die Hände gespielt. Aber erklären heißt eben nicht entschuldigen oder gar legitimieren.
Ja, auch die Folgen des Versailler Vertrages haben den Nationalsozialisten bei der Machtergreifung und der Errichtung ihres menschenverachtenden Regimes in die Hände gespielt. Aber niemand war in Deutschland aufgrund der Folgen des Versailler Vertrages zwangsläufig dazu gebracht, die Nationalsozialisten zu unterstützen, wie so mancher Erklärungsversuch der Nachkriegsgeschichte die Täter zumindest teilweise zu entschuldigen suchte.
Das humanitäre Dilemma als zynische Kampftaktik
Und auch jetzt nutzt die Hamas das humanitäre Dilemma, in das Israel bei jeder Gegenwehr gerät, gezielt für die eignen Zwecke aus.
Es war wohl auch das eigentliche Ziel der Angriffe, das mehr als 1400 Menschen in Israel, überwiegend Zivilisten, das Leben kostete und über 200 Menschen in Geiselhaft brachte, eine heftige Gegenreaktion Israels zu erzwingen. Um in deren Folge jeglichen Ausgleich mit Israel im arabischen Raum zu zerstören und die ohnehin geschwächte gemäßigte palästinensische Autonomiebehörde in der West Bank weiter zu schwächen und auch dort der Machtübernahme der radikalen Kräfte propagandistisch den Boden zu bereiten.
In diesem zynischen Kalkül hat die Hamas der palästinensischen Zivilbevölkerung, für die sie zu kämpfen vorgibt, allein die Rolle eines zivilen Schutzschildes für ihre militärischen Strukturen und ihre „Kämpfer“ sowie als Produzenten schrecklicher humanitärer Bilder zugedacht, die dann ausgiebig und sehr effektiv für die eigenen Propagandazwecke genutzt werden.
Israel wiederum bleibt lediglich die Alternative, sehenden Auges in diese humanitäre Falle der Hamas zu tappen, oder aus Rücksicht auf die Zivilbevölkerung die Hamas in deren Schutz gewähren und aus diesem Schutz heraus weiter Angriffe auf die israelische Zivilbevölkerung und das Militär ausführen zu lassen. Was aber auch nur die Propagandaerfolge der Hamas stärkt und sie gegenüber der palästinensischen und islamischen Bevölkerung als die einzige Bewegung erscheinen lässt, die erfolgreich den „Zionisten“ gegenüberzutreten mag.
Zudem würde ein solches „Zurückweichen“ jede israelische Regierung innenpolitisch destabilisieren, da sie sich unweigerlich dem Vorwurf ausgesetzt sähe, ohne aktive und kräftige Gegenwehr Angriffe auf israelische Bürger zuzulassen.
Völkerrecht nicht die öffentliche Meinung als Leitlinie
Und so kann sich Israel gar nicht von den „öffentlichen Bildern“ und der von ihnen erzeugten internationalen öffentlichen Meinung leiten lassen. Auf diesem Feld der hybriden Kriegsführung ist es aufgrund des beschriebenen humanitären Dilemmas der Hamas hoffnungslos unterlegen.
Als Leitlinie bleibt so nur internationales Völkerrecht.
Das lässt jedoch zivile Opfer im Rahmen von Kampfhandlungen als indirekte Folge zu. Voraussetzung ist, dass militärische Ziele bekämpft werden und nicht die Zivilbevölkerung das eigentliche Ziel ist. Gleiches gilt auch für das Thema Belagerung. Auch hier sind zivile Opfer im völkerrechtlichen Sinne hinzunehmen, wenn das militärische Ziel im Vordergrund steht. Dabei gilt bei der Hinnahme von Opfern unter der Zivilbevölkerung ein Übermaßverbot.
Dieser Rahmen jedoch kann sehr weit gefasst sein, wie die völkerrechtliche Diskussion um die Flächenbombardements im Zweiten Weltkrieg deutlich macht. Das unterschied ja gerade die Kriegsführung der Alliierten im zweiten Weltkrieg von der Nazideutschlands, für das insbesondere im Osten die Vernichtung der gesamten slawischen und jüdischen Bevölkerung das eigentliche Ziel des militärischen Einsatzes war.
Gleichzeitig gibt es im Völkerrecht eine eindeutige „Schuldzuweisung“, die gerade für die jetzigen Auseinandersetzung im Gaza-Streifen von entscheidender Bedeutung ist.
Zum einen gibt es das eindeutige Verbot des Angriffs auf gekennzeichnete zivile Einrichtungen wie Krankenhäuser und Schulen, zum anderen gibt es aber auch das eindeutige Verbot, militärische Einrichtungen oder Stellungen innerhalb dieser oder in ihrer unmittelbaren Nähe anzulegen. Und so macht sich die Hamas des Kriegsverbrechens schuldig, wenn sie militärische Stellungen unter Krankenhäusern und Schulen anlegt, nicht Israel, das diese angreift.
Täter-Opfer-Umkehr
Auch hier hat aber die völkerrechtswidrige Einrichtung von militärischen Stellungen und anderen militärischen Einrichtungen, wie etwa Versorgungs- oder Munitionsdepots, für die „Kriegsverbrecher“ den Vorteil, aus dieser „Deckung“ heraus operieren und gleichzeitig bei Gegenwehr die emotionalen Bilder für den Krieg an der „Propagandafront“ nutzen zu können. Gerade in Zeiten der weltweiten Wirkung sozialer Netzwerke eine sehr wirksame „Täter-Opfer-Umkehr“ in der hybriden Kriegsführung, die weit über die Wirkung von Fake-News hinaus geht und auch in das „gegnerische“ Lager wirkt.
Selbst erlebt
Wie so etwas aussieht, habe ich selbst erlebt. Ich war 1994 im damaligen Krieg zwischen Kroaten und Bosniaken in der Stadt Mostar in der Humanitären Hilfe im Einsatz. Medial weltweit bekannt wurde dabei das „Kriegskrankenhaus“ in der Mitte des von den Bosniaken verteidigten östlichen alten Stadtteil Mostars, das immer wieder von kroatischer Seite beschossen wurde. Mir gelang es dort, nicht nur, so wie die Scharen internationaler Kammeratems im Krankenhaus das zu „besichtigen“, was die bosniakische Seite zeigen wollte, sondern auch Räumlichkeiten zu erkunden, zu denen man diesen keinen Zugang gewährte. Im Keller waren die Operationsmöglichkeiten unter schwierigen Bedingungen untergebracht, im Erdgeschoss und im ersten Stock die Krankensäle. Im Zweiten Stock, ein Raum für Pflegepersonal und einer als Lager und im Dachgeschoss waren ebenfalls Medikamente und Verbandsmaterial gelagert. In den anderen dem Westen also der Frontseite zugewandten Räumlichkeiten im Zweiten Stock, die Fremden und Journalisten nicht gezeigt wurden, fanden sich dann allerdings die typischen Anzeichen einer „Sniper“, also Schafschützenstellung, von der man aus der erhöhten, in Hanglage liegenden Position des Krankenhauses über die Dächer der darunter liegenden Häuserreihen hinweg eine großen Teil der auf der westlichen Seite der Neretwa liegenden kroatischen Front bestreichen konnte. Auch wenn auf der serbischen und kroatischen Seite in weit größerem Umfang Kriegsverbrechen begangen wurde, heiligt der Zweck eben nicht die Mittel, auch bei den Schwächeren und auch und gerade im Völkerrecht nicht.
Was zeigen die Bilder?
Und so sehe ich viele Bilder über die Opfer unter Palästinensischen Zivilbevölkerung mit etwas anderen Augen. Sind diese unschuldigen Menschen nicht in Wirklichkeit eher die Opfer der zynischen, völkerrechtswidrigen Kampftaktik der Hamas, denn der israelischen Militärschläge?