IPS-Erfahrungsbericht von Nevena Lovrinovic

Nevena Lovrinovic gemeinsam mit Gerold Reichenbach, MdB, beim IPS-Stipendiatenabend

Einführung

Das Internationale Parlaments-Stipendium bietet jungen gesellschaftlich und politisch engagierten Menschen eine hervorragende Gelegenheit, zu lernen, wie die parlamentarische Arbeit in Deutschland funktioniert, ein Semester lang an den Berliner Universitäten ihr Wahlfach zu studieren und internationale Freundschaften fürs Leben zu schließen. Andererseits bietet es auch eine Plattform für einen Dialog zwischen Stipendiatinnen und Stipendiaten aus zerstrittenen Ländern, die beim Stipendium auf Zusammenarbeit angewiesen sind und die anderswo keinen Raum für konstruktive Auseinandersetzung miteinander finden können. Leider wird diese Möglichkeit erstens nicht immer von allen Seiten genutzt und zweitens wird sie des Öfteren missbraucht. Dennoch gibt es sie und sie repräsentiert für mich eine Hoffnung, dass es in einzelnen Fällen doch zu einem Versuch kommen kann, einander zu verstehen. Ich hoffe, dass ich im folgenden Erfahrungsbericht über das IPS-Programm die fantastischen und die weniger fantastischen Aspekte des Programmes objektiv bewerten kann. Leider liegt es in der Art des Menschen, mehr zu nörgeln als zu loben. Bevor ich zu dem lobenden Teil komme, werde ich gleich am Anfang eine persönliche und vielleicht zu Unrecht zu kritische Einstellung zum Typ des Programms äußern. Als ich mich für das Stipendium beworben hatte, hoffte ich, dass es um ein politisches Programm geht. Statt erwartete Seminare und Diskussionen über gesellschaftspolitische Herausforderungen vorzutreffen, musste man sich mit halbwegs schlecht organisierten informationsarmen Veranstaltungen, nicht konstruktiven Feedbackrunden, Veranstaltungen unterhaltenden Typs (Auftaktveranstaltung und Stipendiatenabend) zufrieden stellen. Mit den gesellschaftlichen und politischen Problemen hat man sich innerhalb des obligatorischen Teils des Programms sehr wenig auseinandergesetzt. Ich behaupte nicht, dass es keine Gelegenheit dazu gab: das konnte man in privaten Gesprächen machen, bei den Abendveranstaltungen der Stiftungen und Fraktionen, es gab auch ein lobenswertes von den Stipendiaten selbst aufgestelltes (fakultatives) politisches Forum, an dem man aber wegen der Vorbereitungen für den Stipendiatenabend, anderer obligatorischer Veranstaltungen und des Versuchs im Abgeordnetenbüro so viel wie möglich mitzubekommen sehr selten teilgenommen hat. Ich möchte damit sagen, dass das Potential des Stipendiums, 116 Menschen mit unterschiedlichsten Hintergründen in einem Raum zu bringen, Themen wie Armut, wirtschaftliche Systeme, Diskriminierung, Gerechtigkeit u. Ä. in ihren Ländern anzusprechen und voneinander zu lernen, nicht ausgenutzt wird. Vielleicht habe ich den Zweck des Stipendiums missverstanden, es fehlten mir aber Auseinandersetzungen mit wichtigen lokalen und globalen Problemen und die Arbeit an deren möglichen Lösungen. Ich bin mir bewusst, dass ein solches Programm ein großes Konfliktpotenzial hat. Ich glaube aber nicht, dass man Konflikte vermeiden soll, sondern von ihnen lernen kann. Durch diese Konfliktenergie oder die womöglich konstruktive Auseinandersetzung mit Konfliktursachen könnten sich Energien entfalten, die mehr Engagement der Stipendiatinnen und Stipendiaten nach dem Stipendium ankurbeln könnten. Stattdessen haben wir uns damit beschäftigt, den Stipendiatenabend spaßig zu gestalten, getanzt und gesungen. In meinen Mitstipendiatinnen und Mitstipendiaten habe ich aber ein größeres Potential erkannt.

Ablauf der Bewerbung

Für die Bewerbung um das Stipendium habe ich mich aus ausgeprägtem Interesse an gesellschaftspolitischen Themen beworben und um einen insider Blick auf die Arbeit der unterschiedlichen Parlamentsabteilungen zu gewinnen. Ich betrachtete es als eine gute Gelegenheit, zu lernen, wie man an gesellschaftlichen Entwicklungen teilnehmen kann und welche die Wege der Politik sind, wenn eine wichtige Entscheidung mit vielen entgegengesetzten Interessensgruppen gefällt werden muss. Ich glaube, dass man sich nur durch das Verstehen solcher Vorgänge erfolgreich an gesellschaftlichen Veränderungen beteiligen kann, da die Politik deren Richtung steuert. Zu den praktischen Aspekten: Die Bewerbung um das Stipendium ist im Wesentlichen einfach. Ein paar Formulare ausfüllen, Motivationsschreiben anfertigen und Empfehlungsschreiben von Dozenten sammeln, ist alles, was gefragt wird. Der schwierigere Teil des Prozesses erfolgt dann aber nach der Einladung zum Auswahlgespräch. Von früheren Stipendiaten hört man Horrorgeschichten von schwierigen Fragen über die deutsche Geschichte, Politik und das Rechtssystem. Dazu bekomme man brenzlige Fragen über die Situation im eigenen Land gestellt. Man weiß nicht, wie man mit den Vorbereitungen anfangen soll, denn es handelt sich um Bereiche, die man zehn Leben lang studieren könnte. Und nach der hektischen Vorbereitung ist dann endlich der Moment gekommen, wenn man alleine vor der fünf- oder sechsköpfigen Auswahlkommission sitzt und mit Fragen und Unterfragen beschossen wird, nicht nur zu Deutschland und dem Heimatland, sondern auch zu Funktionsweisen der EU-Institutionen. Die Fragen sind nicht einfach, doch am Ende kommt es aber auch nicht darauf an, ob man sie alle richtig beantwortet, sondern wie man mit ihnen umgeht.

Langsamer Start

Nach der Zusage kommt dann die Freude, aber auch Enttäuschung mit dem Einsehen, dass für das Praktikum im Abgeordnetenbüro zum ersten Mal seit Jahrzehnten nur drei Monate vorgesehen sind. Erste Frage, die einem in den Sinn kommt: Was ist mit drei Monaten anzufangen? Lernen kann man manches, aber die Zeit genügt nicht für die Einarbeitung in den parlamentarischen Alltag. Dann denkt man sich, dass sicherlich ein guter Grund dahinter steht und dass das Ersatzprogramm sicherlich gut gestaltet sein muss. Voller Freude kommt man in Berlin an. Dann folgt die Ernüchterung im Paket mit Veranstaltungen, die über die Tage und den Monat unlogisch zerstreut sind und bei denen Informationen präsentiert werden, die man sich schon für das Auswahlgespräch hätte aneignen müssen. Auch für die Auftaktveranstaltung findet man schwer Verständnis und empfindet die Vorbereitungen als reine Zeitverschwendung. Man denkt sich, dass der Stipendiatenabend als die einzige Veranstaltung unterhaltenden Inhalts reichen würde. Damit der erste Monat aber nicht nur in Kritik versinkt, muss ich anmerken, dass der Besuch im Bundesrat und die Info-Busfahrt durch Berlin informationsreiche und geniale Ereignisse waren. Im Großen und Ganzen, März hätte besser gestaltet werden können: Es hätte genügt, wenn die Vorbereitungsveranstaltungen zwei Wochen gedauert hätten und es wäre nützlicher gewesen, wenn wir früher mit dem Büropraktikum angefangen hätten. Trotz meiner Unzufriedenheit mit dem Programm des ersten Monats habe ich versucht, das Beste daraus zu machen, die Mitstipendiatinnen und Mitstipendiaten kennenzulernen und den Hintergrund der Programmgestaltung zu verstehen.

Die Wunder des Büros Reichenbach

Aber dann, Anfang April, wurde alles plötzlich besser. Das Wetter, die Partys und das Programm: Endlich konnten wir unsere Büros und Abgeordneten kennenlernen, die Arbeitsgruppen, Ausschüsse und Plenarsitzungen besuchen. Ich bin darüber froh, behaupten zu können, dass ich unbeschreiblich großes Glück hatte und in einem Büro gelandet war, wo alle vier Mitarbeiter sehr liebe und kluge Menschen sind, die ohne Ausnahme bereit waren, ihr Wissen und ihre Zeit mit mir zu teilen. Sie haben mir jede Kleinigkeit erklärt (ohne über mein vergessliches Gehirn Ärger zu zeigen) und mir fantastische Ratschläge gegeben. Es ist das Büro von MdB Gerold Reichenbach, in dem der netteste und beste Büroleiter Volker Palm, die hilfreiche Nicola, die mit genialen sprachlichen Ausdrücken hantierende Jeannette und die wunderbare Eva hart arbeiten. Last but not least und immer in zwei oder drei Varianten auftretend: der Abgeordnete Gerold Reichenbach, von dem man jedes Mal, wenn er (in seiner hessischen Mundart) etwas sagt, etwas Neues lernen kann. Erste Variante: Er nimmt mich zu Gesprächen, Diskussionen und Sitzungen mit. Zweite Variante: Er ist immer bereit, mir Zusammenhänge und Varianten zu erklären und auf meine dämlichen Fragen Antwort zu geben, wobei sein hessischer Humor, den ich nicht immer verstehe, zutage tritt. Dritte Variante: Bei der Wahlkreisreise begleite ich ihn zu allen Veranstaltungen, er zeigt mir alle Orte im Kreis, erzählt mir unvorstellbar viele Kuriositäten aus der Geschichte, Erdkunde, Biologie, Geologie, Sprache und Kunst und sorgt dafür, dass ich traditionelle hessische Spezialitäten wie Handkäse, Kochkäse, grüne Soße und Apfelwein genieße. In seinem Büro habe ich nicht nur gelernt, wie die alltägliche Büroarbeit organisiert wird – ich hatte auch das Gefühl, dass in mich Vertrauen gesetzt wird. Volker, Nicola, Jeannette und Eva gaben mir unterschiedlichste Aufgaben: Neben der büroorganisatorischen Arbeit habe ich Recherche zu verschiedenen Themenbereichen durchgeführt und Entwürfe von unterschiedlichen Textsorten wie Antwort auf Bürgerbriefe, Pressemitteilung, Newsletter-Text oder Rede geschrieben. Obwohl Deutsch nicht meine Muttersprache ist, sind sie mir ohne Vorurteile begegnet und haben mich behandelt, als wäre ich Teil ihres Teams. Auch mit den Themen, mit denen ich mich während des Praktikums beschäftigt habe, war ich glücklich. Ich fand sie von äußerster Wichtigkeit für die Zukunft der Menschheit: Da er Mitglied des Innenausschusses und stellvertretender Vorsitzender im Ausschuss Digitale Agenda ist, beschäftigt sich Herr Reichenbach mit Datenschutz und IT-Sicherheit. Ich freue mich, dass ich viel darüber lernen konnte, denn die rasant wachsende Digitalisierung aller unserer Lebensbereiche verändert allmählich die Konzeption unserer Privatsphäre und Lebenssicherheit. Außerdem wurde ich vom Büro regelmäßig zu Landesgruppen- und Fraktionsveranstaltungen eingeladen und angemeldet, wo nicht nur gearbeitet, sondern auch gefeiert wird. Das Büro Gerold Reichenbach würde ich ausnahmslos und ohne Bedenken allen Praktikantinnen und Praktikanten empfehlen!

Seminarreisen

Ein weiterer genialer Teil des Stipendiums waren die Seminarreisen. Die erste war in der Friedrich-Ebert-Stiftung in Berlin mit Fokus auf die Geschichte und Werte der Sozialdemokratie. Die meisten Vorträge waren informativ und interessant, es ergaben sich Diskussionen und die Stipendiaten aktivierten sich bei Gruppenarbeiten. Zum facettenreichen Angebot gehörte auch ein Besuch des Willy-Brandt-Hauses und einer Kreuzberger Moschee inklusive eines interreligiösen Gesprächs. Obwohl ich überzeugte Sozialdemokratin bin, hat mir die von der Rosa-Luxemburg-Stiftung  organisierte Seminarreise Sozialökologischer Umbau und erneuerbare Energien - Das Beispiel Mecklenburg-Vorpommern noch besser gefallen. Das Seminar bestand aus einer Reise nach Wietow bei Wismar, wo wir in einem Solarzentrum untergebracht waren und Vorlesungen über nachhaltige erneuerbare Energien hatten. Was mir besonders gefallen hat, ist, dass man dort anhand einer Kombination von Theorie und Praxis lernen konnte, wie Photovoltaik und Solarthermie funktionieren und erfahren, mit welchen Hindernissen sich Betreiber von erneuerbaren Energieanlagen wirtschaftlich und juristisch auseinandersetzen müssen. Im Programm waren außerdem eine Windparkbesichtigung und Ausflüge nach Wismar, Rostock und in das Naturschutzgebiet Insel Pöel einbegriffen, bei denen wir viel über die Geschichte Mecklenburg-Vorpommerns gelernt haben. 

Partys

Obwohl ich fester Überzeugung bin, dass aus der Planung einer gemeinsamen Veranstaltung viel gelernt werden kann, haben mich die Vorbereitungen für die Auftaktveranstaltung fast davon abgehalten, mich an der Organisation des Stipendiatenabends zu beteiligen. Es war mir klar, dass der Sinn der Veranstaltung war, dass sich Stipendiaten aus einer Region besser verstehen lernen – ich hatte nur das Gefühl, dass wir durch diese harmlose Form Konflikte vermieden oder sie nicht zu Ende aufgearbeitet haben. Wichtige Themen wurden nicht angesprochen, die Region Balkan I und Balkan II haben (nach einer Meinungsverschiedenheit ohne Kosovo und Albanien) ein Theaterstück auf die Bühne gestellt, ohne über wichtige regionale Themen zu reden und sich mit den verschiedenen Meinungen auseinanderzusetzen, über Unterschiede zu diskutieren und ohne Versuche Lösungen zu finden. Mir fehlte das Politische bei einer perfekten politischen Plattform. Wir arbeiten zusammen ohne Rücksicht auf Unterschiede und Konflikte – das ist lobenswert. Andererseits arbeiten wir sie auch nicht auf. Ein richtiger Erfolg des Programms wäre, sich mit denen auseinanderzusetzen und trotzdem in der Lage zu sein, zusammenzuarbeiten. Deshalb fühle ich, dass ein riesengroßes Potential des Stipendiums nicht ausgenutzt wird, wofür auch die Stipendiaten Verantwortung tragen.Für die Teilnahme am Stipendiatenabend habe ich mich am Ende doch entschieden, weil ich denke, dass die investierte Energie und die unterhaltende Art eine passende Danksagung an Organisatoren und die Abgeordnetenbüros sind. Das IPS ist ein fantastisches Programm und kostet die Organisatoren und Büros viel Mühe und Nerven. Bei den Vorbereitungen habe ich für mich eine  Rolle und eine mir nahe Form gefunden. In der Funktion der Regisseurin habe ich zusammen mit meiner Gruppe drei kurze Filme gedreht, die wir in Kombination mit einer Bühnenaufführung präsentiert haben. Obwohl das viel Zeit, Nerven und Verzicht auf andere Pläne erforderte, war es des Aufwands wert. Der Stipendiatenabend ist eine Form, die es viel besser als die Auftaktveranstaltung den Stipendiaten ermöglicht, zu lernen, wie die Zusammenarbeit mit einer großen Anzahl von Menschen (insbesondere mit unterschiedlichen Weltbildern) funktioniert. Deshalb bin ich der Meinung, dass die Auftaktveranstaltung ausfallen oder eine andere Form aufnehmen sollte und die Teilnahme am Stipendiatenabend für alle obligatorisch werden sollte. Im diesjährigen Fall wollten sich nicht alle beteiligen. Manche Stipendiaten haben sich bei mehreren Gruppen engagiert, während die Anderen bei Seite blieben. 

Studium an den Berliner Universitäten und IPS-Vorlesungen

Die drei IPS-Vorlesungen kann ich nur loben. Ich finde es toll, dass wir die Gelegenheit hatten, über wichtige Lösungen in Bereichen wie Wasserversorgung und Bürgerbeteiligung bei der Stadtplanung zu lernen und diskutieren. Auch von der Gelegenheit, an den Berliner Universitäten zu studieren, habe ich Gebrauch gemacht. An der Humboldt Universität nahm ich an dem Seminar Globalisierung Afrikas teil, bei dem Fragen angesprochen wurden, wie die eurozentrische Weltsicht unsere Wahrnehmung von Afrika gebildet hat und wer die Spieler im Prozess der Globalisierung dieses Kontinents in der neueren Geschichte waren.

Fazit

Wie ich schon am Anfang des Berichts geschrieben habe, finde ich, dass das IPS ein fantastisches Programm ist. Ich habe versucht, über positive und negative Seiten fair zu berichten. Das Beste am Programm ist der kulturelle Austausch und die Gelegenheit, sich mit den Mitstipendiaten über unterschiedliche Bereiche auszutauschen. Als Nachteil betrachte ich die Tatsache, dass dieser Austausch zu wenig auf formaler Ebene des Programms stattfindet. Vom Potenzial, den Stipendiatinnen und Stipendiaten einen intensiveren und emotionaleren Anstoß zum aktiven gesellschaftspolitischen Handeln zu geben, wird ungenügend Gebrauch gemacht. Zum Schluss möchte ich mich beim Referat WI4 bedanken, dass uns durch die ganze Dauer des Stipendiums aufmerksam begleitet und alles in seiner Macht getan hat, um uns die Erfahrung angenehm und unvergesslich zu machen. Es muss unglaublich schwierig sein, 116 sehr anspruchsvolle Leute über fünf Monate lang zu betreuen. Es ist Ihnen aber sehr gut gelungen!